Was habe ich mir geschenkt?

Höher – schneller – weiter – das Hamsterrad dreht sich unaufhörlich. Was ich alles noch schaffen will oder muss. Geschenkt in diesem Jahr mit dem ersten Lockdown. In diesem Jahr, das so sehr aus den Fugen geraten ist. Plötzlich ist nichts mehr selbstverständlich. Das „das war schon immer so“ und das „das haben wir immer so gemacht“, muss neu angeschaut und überlegt werden.

Geschenkt: Das „Muss das genau so sein?“ und das „Wie können wir das auch anders machen?“.

 

Die erste Zäsur im Frühjahr vor Ostern. Geschenkt die Notwendigkeit von einem Ort zum anderen unterwegs zu sein, mit schwerem Gepäck und immer wieder neuen Begegnungen.

In der Zeit bin ich gezwungen, kürzer zu treten und meine Aufmerksamkeit einer neuen Hüfte zu widmen. Ich merke, ich verpasse nichts.

Geschenkt: Zeit für geduldiges Üben.

 

Die Welt wird kleiner, weil keine auswärtigen Termine warten, keine Reisen quer durch die Republik nötig ist und keine Reisepläne für den Osterurlaub geschmiedet werden müssen. Geschenkt, das Funktionieren und das die Notwendigkeiten erfüllen müssen. Und plötzlich ergibt sich die Möglichkeit für eine Unterbrechung des Hamsterradlaufs und die Gelegenheit Passionszeit auf Ostern hin ganz bewusst zu leben.

Geschenkt: Zeit zum Nachdenken und Dasein.

 

Kontakte beschränken sich auf Telefon oder Skype, WhatsApp oder zoom. Kirchweih, Grill- und Bierfeste – mit vielen Menschen am Tisch sitzen – mit lauter Musik, manchmal so laut, dass man sein eigenes Wort nicht versteht. Geschenkt in diesem Jahr!

Im Sommer mehr oder wenig vorsichtige Lockerungen.

Mit einer Freundin am Sonntagabend in den Biergarten, die Aussicht in ein stilles Tal genießen und ein wunderbar intensives Gespräch führen. Wir können einander gut zuhören mit viel Aufmerksamkeit und Achtsamkeit.

Geschenkt: Zeit für Verstehen und die Pflege von Beziehung.

 

Die erste Anfrage für ein online Seminar beantworte ich noch spontan mit: Das kann ich mir nicht vorstellen. Nein, nicht mit meinem Thema! Das braucht die Begegnung der Menschen, eine Atmosphäre von Geborgenheit, Kommunikation im Kontakt. Geschenkt in diesem Jahr, weil, es einfach nur sehr eingeschränkt möglich ist, Präsenzseminare anzubieten!

 

Erste Versuche dann doch online, weil ein Ende der Beschränkung nicht abzusehen ist und ich ja auch ein bisschen arbeiten will und muss. Mehr oder weniger Fremdeln mit der Technik. Und dann stelle ich fest, ich muss auch nicht alles allein können. Da gibt es engagierte junge Kolleginnen, die sich die Technik zutrauen. Wir ergänzen unsere Stärken und am Ende steht ein Seminar, das der Präsenzveranstaltung nicht nachsteht. Es ist anders als gewohnt, natürlich und auch inhaltlich nochmal neu zu denken. Aber wir erreichen Menschen, die sonst gar nicht teilnehmen könnten.

Geschenkt die Erfahrung, dass wir uns wunderbar ergänzen über verschiedene Generationen hinweg.

Je länger die Pandemie dauert, desto öfter höre ich: „Gut, wenn das endlich vorbei ist und wir zur Normalität zurückkehren können. Geschenkt, mit dem neuerlichen Lockdown ab November rückt die Rückkehr in die Ferne. Der heißt jetzt Lockdown light und was bedeutet das für die Sehnsucht zurück zur Normalität? Geschenkt also die Normalität? Ich glaube, das Virus wird uns noch lange Zeit beschäftigen.

 

Was aber wird nun mit unserer Sehnsucht, unserer Hoffnung? Vielleicht ist die Herausforderung, dass wir uns dem stellen, was denn Normalität heißt. Überlegen, was denn unsere wirkliche Sehnsucht ist und wie wir leben wollen: solidarischer – gerechter – verantwortlicher – nachhaltiger – spiritueller – …

Geschenkt: Erfahrungen, wie das Zusammenleben auch sein kann, wenn wir – jede und jeder für sich und andere – achtsam leben.

 

Und jetzt auch noch das: Weihnachten ist in Gefahr und wir müssen doch alles tun, damit Weihnachten stattfinden kann. Aber wovon sprechen wir? Davon sich mit anderen Menschenmassen durch die Budenstraßen eines Weihnachtsmarktes zu schieben? Powershopping an den Adventswochenenden? Weihnachtsfeier-Hopping mit Glühwein, Plätzchen und Weihnachtsliedern im Advent? Familienstreit unter dem Weihnachtsbaum, weil wir nicht schaffen, den hohen Erwartungen an das Fest der Familie gerecht zu werden? Geschenkt, in diesem Jahr, weil der Lockdown light uns ausbremst in dieser Zeit, die jetzt schon ruhig und besinnlich werden kann und nicht erst nach den Feiertagen.

Ganz sicher ist aber, dass Weihnachten nicht ausfallen wird! In diesem Jahr nicht und auch in der Zukunft – genau wie seit mehr als 2000 Jahren. Gott ist Mensch geworden und ist den Menschen so nahegekommen, wie es nur irgend geht. „Fürchtet euch nicht!“ hören zuerst die Hirten auf dem Feld. „Fürchtet euch nicht!“, ist auch die Botschaft für uns und „Gott ist Mensch geworden“ und für uns da. Das ist nicht abhängig davon, wie wir die Adventszeit gestalten oder das Weihnachtsfest feiern.

 

Befreit von dem, dass wir nicht machen müssen, was wir immer so gemacht haben in der Advents- und Weihnachtszeit, können wir vielleicht auch besser den leisen Tönen lauschen und auf die Botschaft hören: „Fürchtet euch nicht“.

Geschenkt: die Gelegenheit der Botschaft neuen Raum zu geben, sich anrühren zu lassen von der Nähe Gottes und die Sprengkraft und Energie zu nutzen und in Taten umzusetzen.

 

Gerlinde Krehn, Religionspädagogin und Trainerin für philosophische Gesprächsführung

 

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