Zeit, um Bilanz zu ziehen!
Vielleicht, vielleicht nähern wir uns allmählich dem Endspurt der Pandemie. Nach langen Monaten, die uns zunehmend mürbe machten, die uns genötigt haben, andere Welten zu entdecken, die Beziehungen auf die Probe gestellt und zum wertvollsten Gut gemacht haben, und so viel Unsagbares mehr, geht es in den Endspurt.
Noch einmal alle Kräfte mobilisieren
– das hört man jetzt. Aber was dann? Ich selbst plane schon einen testfreien Spontanbesuch beim Frisör (man wird ja bescheiden) oder gar im Biergarten. Landauf, landab freuen sich Menschen auf diese hoffnungsüberladene Zeit danach, wenn dann alles vorbei sein wird. Verständlich – die gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die wir da gerade irgendwie zu wuppen versucht haben, war in den Lebensspannen der Allermeisten unvergleichlich und unvergleichlich anstrengend.
„Einfach nur froh, wenn’s dann rum ist!“
Ein mentaler Zustand, den manche vielleicht noch aus der Schulzeit kennen – kurz vor Ende eines vermasselten Schuljahres. Oder aus der Arbeit, wenn dieses anstrengende, von Beginn an verkorkste Projekt bald endlich vom Tisch kommt. Und wenn’s dann tatsächlich vorbei ist? Nie wieder dran denken. Nicht mehr davon sprechen am besten. „Die Zeit, deren Name nicht genannt werden darf!“ Einfach wieder normal leben, als wäre nichts gewesen. Das Leben, so gut es geht, genießen. Drei Monate später leicht gequält versuchen, über das Gewesene zu lächeln. Froh sein, wenn wir viele Nasen wieder und manche Nasen nicht mehr sehen müssen, wenn wir unsere eigenen Verletzungen verdrängen und kleinreden können. Das Leben geht schließlich weiter und wartet nicht. Was soll man auch anderes tun?
Diese seltsame Mischung aus Resignation, Flucht nach vorne, innerem Aufrechnen und Abrechnen gibt es auch in der Dynamik von Teams. Manchmal nennt man sie Adjourningphase oder Auflösungsphase. Der Moment, wo allen klar ist, dass jetzt Schluss ist mit dem, was davor war. Aus. Ende. Vorbei. Man sagt „Dankeschön und auf Wiedersehen, die Show muss weitergehen“ und das war‘s. Oft wird diese Phase mit oberflächlichen Phrasen weggewischt – “Passt scho, lass gut sein!” heißt es dann z. B. in Bayern. Und doch bleibt ein schales Gefühl zurück, weil irgendwie jede*r weiß, dass es durchaus Dinge gab, die man noch hätte sagen wollen oder müssen.
Vertane Chancen?
Eine Neuinterpretation des Tuckmanschen Phasenprinzips nennt diese Phase Re-Forming. Sie ist eine Schwelle, der Beginn eines neuen Abschnitts. Durch die gemeinsame Aufgabe und Zeit haben wir Erfahrungen gemacht, Verletzungen erfahren, sind uns Dinge schuldig geblieben, haben Vereinbarungen interpretiert und allerlei Leben hat in der Regel dafür gesorgt, dass eigentlich Vieles zu sagen wäre. Diese unausgesprochenen Fragen stehen in dieser Phase oft ziemlich laut schweigend im Raum:
Was war das, was wir da erlebt haben? Was hat es uns gelehrt? Was hat es mit uns getan und was haben wir getan? Was nun? Gelten meine alten Werte und Regeln noch? Was hat sich für mich und in mir geändert? Wohin soll es jetzt gehen? Was wird sich verändern? Was muss sich ändern? Wo ist jetzt mein Platz?
Was bleibt unterm Strich?
Wir ziehen Bilanz! In der Regel jede*r für sich. Diese Bilanzen sind zunächst einmal individuell und speisen sich aus subjektiv gedeuteten Erfahrungen. Auch unausgesprochen führen sie zu Konsequenzen. Manche verlassen die Gruppe – tatsächlich oder in die innere Resignation, einige verfallen in Umbruchseuphorie und finden, es war alles toll und lehrreich, andere schweigen und leiden still, viele versuchen, einfach irgendwie weiterzumachen und die Beulen unter dem Teppich zu ignorieren.
Hinfallen, Aufstehen, Krönchen richten, Weitergehen
Damit wird eine Chance verschenkt und manchmal auch die letzte Gelegenheit, den Kurs zu korrigieren, das Ruder herumzureißen. Denn in der Resonanz dieser individuellen Bilanzen liegt das größte Potenzial im Zusammenleben und Zusammenwirken von Menschen. Die zentrale Frage der Zeit lautet: Wollen und können wir diesen Schatz heben? Können wir unterschiedliche Bilanzen aussprechen, aushalten und in ein gemeinsames, vielschichtiges Bild bringen? Nach Corona ebenso wie nach abgeschlossenen Teamphasen und -projekten.
Das Reforming ist die letzte Gelegenheit für eine Gruppe, sicherzustellen, dass alle im Boot bleiben, wieder ins Team integriert werden oder sich zumindest im Guten trennen können. Hier entscheidet sich, ob Menschen dem Team, der Gruppe, der Gesellschaft resigniert den Rücken zukehren, oder ob sie sich weiter einbringen und weiterhin konstruktiver Teil sein wollen.
Was braucht es dazu?
- Mut. Sehr viel Mut und den Willen zur guten Gemeinschaft mit allen. Das ist nicht immer so leicht. Schmerzhafte Erfahrungen miteinander stehen oft der Klarheit im Weg.
- Es braucht Haltung. Es braucht die verlässliche Zusage an alle: Was Du erlebt hast, ist wichtig, damit wir alle gut weitermachen können. Deine Perspektive auf das Zurückliegende hilft uns, Fehler in Zukunft zu vermeiden. Lass uns alle davon lernen. Erzähl, wir hören alle zu.
- Einen offenen Raum für alle Perspektiven und…
- … Zeit, damit auch die sich öffnen, die sich vergessen, übersehen und ausgeschlossen wähnen.
- Die vergessene Kompetenz des Hörens: Was hättest Du Dir anders gewünscht? Was sollten wir bei einem nächsten Mal besser machen und wie? An welchem Punkt haben wir den Kontakt verloren? Welche Konflikte sind aufgetaucht? Was hat Dich durchhalten lassen? Wo bist du hin- und hergerissen? Wie beurteilst Du, was war? Was geht Dir jetzt durch Kopf & Herz? Was brauchst Du für die Zukunft? Wohin soll es jetzt Deiner Meinung nach gehen?
- Einen ehrlichen Blick auf die Verschiedenheiten der sogenannten „Bilanzstruktur“ und die Bereitschaft, Konsequenzen auch zu ziehen und nicht nur zu denken. Bereitschaft also zur eigenen Veränderung dem Wohle aller zuliebe.
- Vor allem aber Initiator*innen, die für die Idee des guten Miteinanders einstehen und den Dialog anstreben. Im kleinen Team ganz genauso wie in der großen demokratischen Gesellschaft.
Bereit? Lasst uns am Ende gemeinsam Bilanz ziehen und feiern.