Meine Französischlehrerin

Zu einem Trauergespräch meldet sich eine Frau an. Der Vater ist verstorben. Ich komme in das Haus der Familie, wo mich eine Dame, sie ist eine der Töchter des Verstorbenen, anspricht: „Sie sind doch der Markus. Ich war Ihre Französisch-Lehrerin.“ Und da rattert es mir im Kopf und mein erster Gedanke ist: „Nein, die blöde Kuh hat mir jetzt gerade noch gefehlt. Die hatte mich doch nicht gemocht.“ Ich sehe mich plötzlich in der Schule sitzen und ihren Blicken ausgeliefert.

Ich sage: „Na so etwas. Wie man sich doch wiedersieht.“ Und ich lächele dabei – etwas übertrieben zugegebenermaßen.

Wahrscheinlich haben wir uns beide unbewusst und recht schnell ausgetauscht. Mein Gefühl ist bei ihr angekommen; ihr Gefühl hat mich erreicht. Wir fanden uns beide einander reichlich doof – so meine Vermutung. Eine nonverbale Interaktion der Gefühle hat sich da ereignet!

Dabei weiß ich doch so vieles nicht: Ob sie mich vielleicht damals doch schätzte? Auch weiß ich nicht, ob sie sich in diesen Jahren nicht verändert hat. Ob sie einschneidende Dinge erleben musste und längst nicht mehr die ist, die ich vor so langer Zeit als Lehrerin kennengelernt habe.

Und weiß sie denn, wer ich bin und was aus mir geworden ist?

Ich habe mich um eine Chance gebracht. Was hätte anders kommen können, wenn ich ihr mit einer offenen Aufmerksamkeit begegnet wäre oder wenn es sich ergeben hätte, dass ich sie auf mein Gefühl angesprochen hätte? Vielleicht wäre es dann zu der Verbindung gekommen, die wir damals nicht hinbekommen hatten?

Markus Merz

 

Markus Merz ist Beauftragter im Studienzentrum Josefstal für den Bereich „Spiritualität und Kommunikation“. Seine aktuellen Kurse bei uns sind

 

 

 

Beitragsbild: Bild von Benjamin Balazs auf pixabay.com

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