Volker Napiletzki, Referent für Evangelische Schüler*innenarbeit in Josefstal, schreibt zum vierten Advent:
„Sehet, die vierte Kerze brennt!
Oh je, nur noch fünf Tage bis Heiligabend! Wo kriege ich jetzt noch den heimischen Christbaum her? Und die zündende Idee für das eine immer noch fehlende Geschenk? Wie gut, dass die Adventszeit nicht nur der äußeren, sondern auch der inneren Vorbereitung dient.
Wie wichtig mir der Adventskranz als archaische Form des vorweihnachtlichen „Countdowns“ geworden ist, habe ich gemerkt, als der gewohnte, große grüne Kranz mit seinen klassischen vier roten Kerzen kurz vor dem ersten Adventssonntag nicht am gewohnten Platz in der Eingangshalle des Studienzentrums hing. Der pandemiebedingt fehlenden Gäste wegen hatte man dieses Jahr auf das große Besteck verzichtet; verständlich, aber mir fehlt etwas.
Ich merke: Das Ritual des feierlichen Anzündens der nächsten Kerze im Wochenrhythmus tut mir gut. Es spricht mich an, im wahrsten Wortsinne:
„Fürchte Dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!”
Unterwegs in der dunkelsten Zeit werde ich erinnert, innezuhalten, kurz stehen zu bleiben, einen Moment lang Abstand von dem zu nehmen, was mich ablenkt, zu mir zu kommen, die Perspektive zu wechseln, die anderen und das um mich herum wahrzunehmen, den inneren Kompass neu auszurichten und schließlich den Weg fortzusetzen – und das „alle Jahre wieder“.
Ich entdecke darin die klassischen Schritte der Identitätsentwicklung, auch in den drei vorangegangenen Beiträgen der Kolleg*innen: Der erste lädt mich ein, ruhig zu werden und mich zu öffnen – für mich selbst und für andere. Der zweite Text ermutigt mich, zu mir selbst zu kommen, „ich“ zu sein. Der dritte lenkt meinen Blick von der Selbstbetrachtung auf die Welt um mich herum und mahnt mich, zu handeln.
Und der vierte Advent?
Der sagt mir: „Es ist höchste Zeit. Jetzt bist du dran!“, „Mache dich auf und werde Licht!“ Ja, genau Du! „Mach‘ hoch die Tür“, öffne dein Herz weit! Es kann keinen Zweifel mehr geben und keine Ausrede: Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist gemeint!
Da ist sie wieder, diese unbedingte persönliche Zuwendung, dir mir Identität und Würde verleiht.
Welche Dimension diesem „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen“ innewohnt, habe ich im Gespräch mit einem befreundeten Zeitzeugen in einem Straßencafé in Tel Aviv erstmals annähernd ermessen können: Michael, einer der letzten Überlebenden des Warschauer Getthos, berichtete im Gespräch mit Jugendlichen von dem Moment, in dem ihm im Konzentrationslager Flossenbürg sein Name genommen und durch eine Nummer ersetzt wurde.
Ich achte seitdem mehr auf Namen. Ich bemühe mich in Gruppen sehr, sie mir anzueignen und sie richtig zu schreiben, auch wenn mir das schwerfällt. Ich verwende sie bewusster, gerade im Gespräch mit jungen Menschen.
Der vierte Advent!
Ich glaube, ich bin jetzt soweit. Ich lasse mich bei meinem Namen rufen. Ich mache mich auf, dem Weihnachtslicht entgegen. Was mich erwartet? Eine Art „Hoffnungsupdate“ als Gegenentwurf zur weltlichen Macht, das alte Kirchenlied beschreibt es eindrucksvoll: Heil, Leben, Sanftmut, Gerechtigkeit, Freude, Sonne, Trost, Freundlichkeit, Gnade: Macht hoch die Tür, die Tor macht weit!“
Volker Napiletzki